Nicht die ewige Stadt Schirwindt: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 30. August 2014, 13:28 Uhr

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Nicht die ewige Stadt

Schirwindt: An der Grenze zwischen der Geschichte und der Gegenwart

Julia Larina

Im deutschen Meiningen in Thüringen werden sich Ende August Stadtbewohner treffen. Jedoch sind es nicht die Bewohner von Meiningen, sondern die Bewohner der ostpreußischen Stadt Schirwindt. Einmal im Jahr kommen sie aus dem ganzen Land hierher, und das wird schon das 20. Treffen sein.

Nur wenige Leute in Russland und in Deutschland wissen, dass die Stadt Schirwindt je existierte. Schirwindt war die östlichste Stadt Deutschlands. Es soll die einzige europäische Stadt gewesen sein, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgebaut wurde. Im Unterschied zu den Deutschen, die Schirwindt nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufbauten (ja, es wurde auch damals zerstört), taten die Russen das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Ganz im Gegenteil: Sie zerstörten die Stadt völlig, indem sie dieses Territorium in der Sowjetzeit zu einem Truppenübungsplatz machten. Noch immer steht es unter militärischer Verwaltung. Heute ist Schirwindt das Dorf Kutusowo in dem Distrikt Krasnoznamensk im Gebiet Kaliningrad an der Grenze zu Litauen. Außer ein paar Grenzsoldaten, die da ihren Dienst absolvieren, wohnt dort niemand.

Chronik der Unglücke

Schirwindt war die kleinste Stadt in Ostpreußen. Im Jahre 1939 zählte sie 1090 Einwohner. Die Geschichte dieser Stadt, die 1725 das Stadtrecht bekam, ist aber ein Teil der Geschichte Europas. Schirwindt besuchten Könige, Königinnen, Kronprinzessinnen…

Auf den ersten Blick scheinen Geschehnisse in der Stadt den Geschehnissen vieler anderer europäischer Städte zu ähneln: Schirwindt wurde von Schweden erobert, von Tataren verwüstet, von Russen besetzt… Im Juni 1812 durchquerten zwei Kavalleriedivisionen von Napoleon in Richtung Russland die Stadt, im Dezember gingen die geschlagenen Franzosen zurück (sie konnten sich natürlich nicht vorstellen, dass dieser Ort später nach dem Namen des Menschen benannt würde, der ihre Armee zerschlagen hatte, – Michail Kutusow). Im 18. Jahrhundert wurde die Stadt von der Pest und im 19. Jahrhundert von Cholera, Diphtherie und Pocken heimgesucht. Alles scheint wie bei vielen anderen Städten in Europa zu sein. Wenn man aber die Geschichte von Schirwindt in allen Einzelheiten kennt und weiß, wie sie geendet hat, versteht man, dass diese kleine Stadt nur sehr wenige Phasen des Glücks hatte.

Jahrhundertelang kämpfte Schirwindt mutig ums Überleben: Es gab hier Kosakeneinfälle, Missernten, Viehseuchen, Brände, Orkane und sogar im Juni (!) 1928 meterhohen Schnee.

In Russland begann man, sich seit 2006 für diese Stadt zu interessieren – nach der Erscheinen des Buches „Schirwindt, stertyj s liza semli“ (wörtlich: „Schirwindt, vom Antlitz der Erde ausgelöscht“), verfasst vom künstlerischen Leiter des Moskauer Satiretheaters Alexander Schirwindt, und seinem Besuch im Jahr 2007 des ehemaligen Schirwindts. Von der gleichnamigen Stadt erfuhr Alexander Schirwindt, als er Kind war: Sein Vetter, Major bei der Artillerie, schickte ihm 1944 einen Ausschnitt aus einer Frontzeitung mit der Schlagzeile: „Wir haben Schirwindt befreit.“

Übrigens ist Schirwindt vorher auch bekannt gewesen. Als Dorf wird es 1516 (nach anderen Angaben 1515) zum ersten Mal erwähnt. Die einen meinen, dass Schirwindt vom Fluss Schirwindt seinen Namen hätte, die anderen behaupten, dass gerade der Ort dem Fluss seinen Namen gegeben habe.

Im 18. Jahrhundert ließ König Friedrich Wilhelm I. zwanzig Häuser auf eigene Kosten erbauen, für fünf weitere Häuser das Material liefern und außerdem bezahlte er einen Teil der Baukosten.

Im 19. Jahrhundert trug König Friedrich Wilhelm IV. die Kosten für die neue Kirche der Stadt. Die preußischen Könige, die in der Zeit zwischen diesen beiden Herrschern regierten, haben aus unbekannten Gründen nichts in Schirwindt gebaut.

Als Friedrich Wilhelm IV. Schirwindt zum ersten Mal besuchte, soll er zu seinem Gefolge gesagt haben: „Habe ich im Westen den Katholiken einen Dom erbaut (er meinte den Kölner Dom – J.L.), so will ich hier im Osten nun den Evangelischen einen Dom erbauen, der ebenso stolz nach Rußland hineinragt, wie die katholische Kirche von drüben hierher.“

Die evangelische Kirche wurde 1856 erbaut und in Anwesenheit des Königs geweiht.

Drüben, in Russland, befand sich damals die Stadt Wladislawow, die seit 1934 Kudirkos Naumiestis heißt. Heute gehört sie zu Litauen.

Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkrieges besetzten die Russen Schirwindt drei Mal. Die Bewohner flüchteten. Die Stadt wurde stark zerstört. Um das Ausmaß dieser Zerstörung zu veranschaulichen, reicht es zu sagen: Verschont blieben nur die Kirche, zwei Wohnhäuser und zwei Wirtschaftsgebäude.

Kennen Sie einen Stadtbürgermeister, der nicht in seiner, sondern in einer anderen Stadt wohnt? Ein solcher Bürgermeister war Herr Cornelius, der 1915 auf russischer Seite, in Wladislawow, wohnte, weil es in Schirwindt keine Wohnung gab. Man wollte Schirwindt an anderer Stelle aufbauen und die Trümmer als historisches Denkmal erhalten. Schirwindt nannte man „eine tote Stadt“. Es wurde aber reanimiert. Das Reanimationszentrum befand sich in Bremen, wo der „Kriegshilfsverein Bremen für Schirwindt (Ostpreußen) e.V.“ gegründet wurde.

Schirwindt wurde erst bis 1925 komplett wieder aufgebaut. Hierbei entstanden 96 Wohnhäuser und 144 Wirtschaftsgebäude. Die Stadt hatte sogar ein Altersheim mit zwei Arrestzellen für Polizeigefangene. Es gab viele Geschäfte, drei Hotels und Gaststätten und ein Taxi.

Alles hatte Schirwindt, außer einer Zukunft.

Am 22. Juni 1941 marschieren die deutschen Truppen in das sowjetische Territorium östlich Schirwindts ein. Drei Jahre später, am 31. Juli 1944, verließen die Bewohner wegen der ersten sowjetischen Luftangriffe eilig die Stadt. Die Rote Armee besetzte aber Schirwindt erst am 17. Oktober. Da es die erste besetzte deutsche Stadt war, gab es keine Schonung. Der Hass, den sowjetische Soldaten und Offiziere auf die Faschisten empfanden, richteten sie nicht nur gegen Schirwindt, sondern auch gegen ganz Ostpreußen und seine Bevölkerung.

Nach dem Krieg gehörte dieses Territorium zum Gebiet Kaliningrad. Die Reste der Gebäude benutzten die Litauer als Baumaterialien, und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwandelte man das Territorium in den größten sowjetischen Truppenübungsplatz, auf dem die Länder des Warschauer Paktes ihre Militärübungen durchführten.

Eine Übergangsperiode

In Schirwindt sind nur ein Gebäude (das den wenigen Grenzsoldaten jetzt als Kaserne dient) sowie die nach Kudirkos Naumiestis führende Lindenallee und eine Brücke erhalten geblieben. Auf dem verwilderten Friedhof gibt es ein Denkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen russischen und deutschen Soldaten. Dort, wo die Kirche stand, ist ein Holzkreuz zu sehen, das der Rentner Antanas Spranaitis aus Kudirkos Naumiestis errichtete. Und das ist nicht das Einzige, was er für Schirwindt gemacht hat. Mit seiner Frau Irene richtete er zuerst in der Kellergarage seines Hauses und dann in einem Gebäude, in dem sie von der Stadtverwaltung drei Zimmer bekommen haben, ein privates Museum ein. Nach dem Krieg hatte Antanas in der in Trümmern liegenden Stadt Gegenstände gesammelt: von Büchern und Geschirr bis zu einer Nähmaschine und Möbelstücken. Die drei renovierten Zimmer – die Reparaturarbeiten wurden von ehemaligen Schirwindtern finanziert – sind voll von Exponaten.

Schirwindt und Wladislawow nannte man Zwillingsstädte. Jahrhundertelang besuchten Einwohner beider Städte einander, gingen über die Grenze einkaufen und schmuggelten sogar. Unter anderem wurde hier zum Beispiel die marxistische Literatur heimlich nach Russland gebracht. Der Verkehr mit Litauen bedeutete für Schirwindt ein reges Leben und Wohlstand. Immer wenn die Grenze gesperrt wurde, verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der Stadt.

In Kudirkos Naumiestis, das heute 1800 Einwohner zählt, träumt man von der Eröffnung des Grenzüberganges. Die soziale Situation in der Stadt ist prekär. Die Eröffnung des Grenzübergangs, über die seit fünf Jahren verhandelt wird, würde sowohl Kudirkos Naumiestis als auch dem Territorium des ehemaligen Schirwindts ermöglichen, sich zu entwickeln. Aber jetzt ist alles wieder schwieriger geworden: Die Grenze zwischen Kutusowo und Kudirkos Naumiestis bildet die Grenze zwischen dem Kaliningrader Gebiet Russlands und der Europäischen Union. Die heutigen Verhältnisse zwischen unserem Land und der EU können eher dazu beitragen, dass etwas gesperrt, aber nicht geöffnet wird.

Schirwindt, das 1914 zerstört wurde, haben die Deutschen bis 1925 zu seinem 200-jährigen Jubiläum wieder aufgebaut. Wenn wir, die Russen, mit dem Wiederaufbau sofort – 2014 – beginnen, schaffen wir das zum 300-jährigen Jubiläum: Bis zum Jahr 2025 haben wir noch Zeit.


Anmerkung: Übersetzung des Artikels aus der „Moskauer Deutsche Zeitung“ (MDZ) vom 14.8.2014, Nr. 15 (382), gez. Julia Larina