Landkreis Neisse/Fluchtberichte: Unterschied zwischen den Versionen
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==Paul Fieweger – Austreibung im Kreise Neiße von Juni 1945== | ==Paul Fieweger – Austreibung im Kreise Neiße von Juni 1945== | ||
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Version vom 2. November 2019, 13:28 Uhr
- Vorbemerkung: Rechtschreibung und Formulierungen sind so belassen worden, wie sie in den Berichten stehen.
Erlebnisberichte
Herbert Melcher (1928 - 2019): Austreibungen aus Giersdorf und umliegenden Dörfern
- Die erste Austreibung aus Giersdorf: Sie vertrieb die Deutschen aus ihren Häusern, damit diese von den Polen in Besitz genommen werden konnten
Ein Holzkreuz am Straßenrand „…Ein großes Holzkreuz, als Symbol des Todes und des Gedenkens, steht auch an der Böschung der ehemaligen Reichsstraße 115 in Schlesien, Strecke Neisse-Ziegenhals unweit der Ortschaft Preiland, heute Przelek. An dieser Stelle geschah am 29. Juni 1945 ein grausames Minenunglück.
Am Vortag, dem 28. Juni 1945 führte die polnische Miliz die erste Austreibung durch. Betroffen waren die Dörfer Giersdorf, Borkendorf und Groß- Kunzendorf. Zwei Stunden nach der Bekanntmachung mussten alle Giersdorfer zur Registrierung beim Gasthaus Jahn sein. Pfarrer Kolbe, den man vom Bett seiner todkranken Mutter weggezerrt hatte flehte, bei seiner Mutter bleiben zu dürfen. Ein Milizer trat ihn so fest in den Hintern, dass er hinstürzte. Der Pfarrer sagte „Gott vergelts."
Als die Borkendorfer und Groß- Kunzendorfer in Giersdorf ankamen, setzten sich ca. 2000 Menschen über den Ziegenhal-ser Berg Richtung Osten in Bewegung. Sie hatten Angst, dass die Reise nach Rußland geht. In Ziegenhals war die Bielebrücke gesprengt und alle mussten durch das knietiefe Wasser gehen.Viele Handwagen blieben vor dem Fluß stehen. Hinter der Stadt ging es auf der Reich-straße nach Westen, über Deutsch-Wette Richtung Neisse weiter. Das erste Nachtlager war eine nasskalte Wiese vor Alt-Wette.
Am nächsten Morgen waren alle durchgefroren und es ging ohne Frühstück bis zu der Stelle, wo heute noch das Kreuz steht. Der Milizer, der am Vortag den Pfarrer Kolbe getreten hatte, setzte sich auf einen Straßenstein, um sich eine Zigarette zu drehen. Als er damit fertig war, sprang er vom Stein herunter auf eine Mine. Nach der Detonation lag er tot an der Böschung, beide Beine abgesprengt- „Gott vergelts".
Ein Pferdewagen, auf dem alte Leute und Kinder saßen, wurde zerrissen. 24 Personen vom Treck sind getötet worden. Aus Giersdorf starben 6 Erwachsene und 3 Kinder. Schwerverletzt wurden 5 Erwachsene und 2 Kinder, die man auf Langer Richard's Milchwagen ins Neisser Krankenhaus gefahren hat.
Nachdem die verstörten Menschen Neisse erreichten, kamen Frauen mit Kleinkindern in eine Reithalle in der Friedrichstadt. Doch die meisten mussten im Freien oder Katakomben kampieren, ohne Verpflegung. In Kellern der Umgebung lagen Kartoffeln, doch darauf haben Leichen gelegen. Viele erkrankten, hauptsächlich Kinder. Mein kleiner Bruder, neun Jahre alt, hat auch Kartoffeln geholt, aber zum Glück keine vergifteten.
Etwa 10 Tage dauerte das Martyrium der ersten Austreibung im Neisser Lager, bis die Häuser und Höfe der Dörfer von den polnischen Umsiedlern besetzt waren. *)
Später haben meine Geschwister von den insgesamt drei schrecklichen Austreibungen berichtet. Die jüngeren Schwestern, fünf und zwei Jahre alt, haben danach viele Jahre gebraucht, bis sie es seelisch verarbeitet hatten
Immer wenn ich dieses Holzkreuz erblicke, sehe ich meine kränkelnde Mutter mit den sechs Kindern vor mir, die inmitten dieser Trecks der Entrechteten und Gequälten, gelitten haben. Keiner konnte ihnen beistehen. Mein Vater war bei Bad Kreuznach in amerikanischer Gefangenschaft, mein Bruder in Rußland und ich war in Gefangenschaft im englischen Waldlager bei Eutin.“ Kreuz des Friedens, bewahre uns vor weiteren Kriegen
Nach der 1. Austreibung hat der Russe das Neisser Lager aufgelöst und die Deutschen wieder in ihre Dörfer zurückgeschickt. Ihre Häuser und Landwirtschaften wurden in der Zwischenzeit vollständig und endgültig von den polnischen Umsiedlern besetzt. In ihre Häuser sind die Deutschen von den polnischen Umsiedlern nicht mehr gelassen worden. Man hat sie einfach weggejagt mit den Worten: „Alles meine, alles meine.“ Manche Bauern und Landwirte konnten auf ihren Höfen als Knechte ohne Lohn arbeiten, weil viele Polen von der Landwirtschaft keine Ahnung hatten.
- Die zweite und dritte Austreibung aus Giersdorf: Man wollte die Deutschen endlich los werden
Die 2. große Austreibung am 23. Januar 1946 begann nach Mitternacht. Die Milizer schlugen mit den Gewehrkolben gegen die Haustüren, stürmten in die Wohnungen und brüllten: „Das Haus sofort räumen und zum Jahn-Gasthaus kommen." Meine Mutter ist von unserem Polen rechtzeitig gewarnt worden. Sie hatte mit meiner 19 jährigen Schwester Elfriede die 5 jüngeren Geschwister reisefertig gemacht. Alle hatten mehrfach warme Bekleidung an, denn es herrschte eine klirrende Kälte von über 20 Grad. Auf dem Dorfplatz standen frierend die Leute, die im überfüllten Gasthaus keinen Platz fanden.
Bei Tagesanbruch trieb man die Menschen trotz hohem Schnee zu Fuß in Richtung Bischofswalde. Es waren meist Frauen mit Kindern und alte Leute. Gehbehinderte und Kranke brachten sie auf Pferdewagen weg, damit sie auch diese los wurden. 16 Männer, die ihren Frauen hätten beistehen können, sind schon vor der 1. Austreibung verhaftet worden. Von diesen wurden 3 ermordet, 10 zu Tode gequält und 3 im Jahr 1948 schwerkrank entlassen.
Vor Bischofswalde ging es rechts weiter über Lentsch, Markersdorf, Alt-Wette zum Bahnhof Deutsch-Wette - insgesamt ca. 12 Kilometer. Hierher brachte man etwa 5000 Bewohner der Dörfer Giersdorf, Groß Kunzendorf, Borkenhof, Bischofs-walde, Lentsch, Markersdorf, Alt-Wette, Neu-Walde, Ludwigsdorf und Oppersdorf. Bevor die Verladung begann, wurden sie von Zivilpolen mit Billigung der Miliz beraubt und geplündert. Selbst getragene Sachen wurden vom Leibe gerissen, Kinderwagen und Taschen weggenommen. Eine Mutter hatte sämtliche Wäsche und Windeln des Kleinkindes in einer Tasche. Sie konnte dem durchnässten Mädchen keine trockenen Sachen anziehen. Aus Verzweifelung weinte sie, da halfen andere Mütter aus. Anschließend wurden sie zu je 80 und mehr Personen in Viehwaggons gepfercht. In Neisse wurden noch Wagen angehängt, dann fuhr der Zug mit 63 Waggons und vielen Unterbrechungen bis nach Linderode bei Forst. Weil sie die nahe Grenze zum russischen Sektor nicht passieren durften, blieben sie auf einem Abstellgleis ohne Lok stehen.
Im Elendszug gab es keine Toiletten, keine Waschgelegenheit und es gab keine Verpflegung.
Die Erwachsenen und größeren Kinder gingen auf eine große, verschneite Wiese, wo die Häufchen gleich gefroren. Für die kleinen Kinder hatten manche Eimer, Nachtöpfe, oder andere Gefäße bei sich.
Eine Wasserpumpe stand am Abstellgleis, oftmals war sie aber eingefroren. Durch Betteleien in der Umgebung haben sich viele verpflegt. Ab und zu gingen Polen am Zug entlang und boten Essbares zum Kauf an,.
Fingerdick war der Raureif an den Innenwänden der Waggons. Die Kälte und der Hunger schwächte alle sehr.
Zuerst starben alte Leute, dann Säuglinge und Kleinkinder. Die Leichen legte man neben die Gleise.
Als es immer mehr wurden, fuhr man die Toten zum Massengrab auf einem Dorffriedhof. Das Elend in den überfüllten Viehwagen wurde täglich größer, Erkältungen, Erfrierungen, Rheuma und die Ruhr brachen aus. Dazu kamen in der Enge noch die Kopf- und Kleiderläuse , die man sich gegenseitig absuchte.
Der kranke Hoheisel Julius lag eines Morgens tot neben meiner 8-jährigen Schwester Helene. Sie erzählte mir später von ihrem Schreck, und dass sie sich danach besser hinlegen konnte. - Viele konnten nur im Sitzen schlafen. Die Tochter Ilse der Familie Metzner Rudolf ist in dieser Zeit geboren worden. Man brachte Frau Metzner in ein bewohntes Haus, wo die Tochter zur Welt kam. Sie hat trotz der schlechten Bedingungen überlebt.
Nach 12 Tagen, am 07. Februar, ging der Transport weiter, aber nicht nach Westen. Das hatten die Alliierten trotz langer Verhandlungen nicht zugelassen.
Am 12. Februar kamen sie wieder in Neisse an. Unterwegs wurden bei jedem Halt die Toten in den Schnee neben die Gleise gelegt. Bei Kamenz blieb auch das Ehepaar Hermann und Pauline Ditsche aus Giersdorf im Schnee liegen. Die Söhne konnten später nie erfahren, wo sie begraben wurden.
Insgesamt soll es bei der 2. Austreibung ca. 250 Tote gegeben haben. Von Neisse aus mussten die geschwächten Menschen im hohen Schnee und der Kälte zu Fuß in ihre Dörfer gehen.
- Die 3. endgültige Austreibung erfolgte am 10. Juni 1946, nachts um 3 Uhr.
Im Morgengrauen gingen die Menschen wie zuvor zu Fuß die 18 Kilometer über Lentsch, Markersdorf, Preiland nach Neisse. Ankunft 14 Uhr auf einer Wiese mit kleiner Halle. Diesmal waren die Polen etwas mensch-licher. Sie stellten mehr Fuhrwerke zum Transport kranker und geschwächter Leute. Nach einer Nacht im Freien, in der ein starker Gewitterregen alle total durchnässte, wurden sie am 11. Juni wieder in Vieh-waggons ohne Sanitäranlagen verladen. Vorher wurden sie registriert und einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen
Dann, - Gott sei Dank - fuhr um 24 Uhr der Zug ab in den Westen.
Am 13. Juni erreichten sie Kohlfurt vor der Sowjetischen Zone zur Entlausung, am 14 Juni zur Registrierung in Ülzen und am 16 Juni 1946 waren sie laut Anmeldeausweis in der Stadt Wunstorf – Ende der Odyssee und endlich in der neuen Heimat.
Ein Transport ging nach Ostfriesland, einer nach Wunstorf in den Raum Hannover und einer in den Vorharz, Raum Duderstadt.
Von 1945 bis 1948 starben in Giersdorf auf der Flucht, nach Verschleppungen und bei den Austreibungen 84 Zivilpersonen durch Erschießungen und Misshandlungen, sowie an Hungertyphus und Entkräftung. Dies geschah alles nach Beendigung jeglicher Kriegsgeschehen, also in sogenannter Friedenszeit.
Diese Schilderungen sollen die Missstände jener Zeit und die Leiden der Dorfgemeinschaften vor 65 Jahren aufzeigen. Es ist zu bedauern, dass im Krieg und in der Nachkriegszeit von beiden Staaten viele Untaten begangen wurden. Aber wir müssen beiden Völkern Dank sagen, dass kein bleibender, gegenseitiger Hass entstanden ist. Ein immerwährender Friede soll uns in der „Europäischen Gemeinschaft" Glück, Lebensfreude und beidseitige Achtung erhalten.
Ich, Herbert Melcher, war in der unseligen Zeit nicht in Giersdorf, deshalb bestehen meine Aufzeichnungen aus Schilderungen meiner Familie, Berichte der Familie Raczek und Frau Gisela Hannibal, geb. Rieger, von Frau Liebe, geb. Heinold und vielen anderen Personen aus Giersdorf. Überörtlich von Dr. Manfred Schubert, sowie vom ehem. Mühlenbesitzer Rinke aus Bischofswalde.
Quelle: Der Bericht erschien im Neisser Heimatblatt, April 2010