Der Kinderwagen: Unterschied zwischen den Versionen

aus GenWiki, dem genealogischen Lexikon zum Mitmachen.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
(Die Seite wurde neu angelegt: „Der Kinderwagen Von Gerhard Krosien Wo Kinder kommen, gibt es - zumindest in Deutschland – meistens auch einen Kinderwagen. Allerdings sind heutzutage junge ...“)
 
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 1: Zeile 1:
Der Kinderwagen
Jedes Ende hat einen neuen Anfang
von Gerhard Krosien


Von Gerhard Krosien
Der Memeler Hochflieger schien mit der Flucht aus Memel
im Jahre 1945 vor seinem Aus zu stehen. Doch es ist anders gekommen.
Gott sei Dank! In unerwarteter Weise haben er und sein Traditionsverein sich als erstaunlich lebenstüchtig erwiesen. Ein Stück Heimat konnte so in eine neue Umgebung hinübergerettet werden. 


Wo Kinder kommen, gibt es - zumindest in Deutschland – meistens auch einen Kinderwagen. Allerdings sind heutzutage junge Frauen oder Männer auf der Straße zu sehen, die ihr Baby in einem Tuch oder besonderen Tragesitz vor oder hinter dem Brustkorb tragen. Diese Mode ist noch nicht sehr alt bei uns. Sie hat ihren Ursprung hier wohl im Zuzug junger Ehepaare aus Ländern zu suchen, in denen diese Art des Babytransports eher üblich ist. Auf diese Weise soll ein verstärkter Körperkontakt zwischen Eltern und Baby möglich sein (sagt man). Sei es, wie es sei! Wir waren vier Sprösslinge, und unser Kinderwagen reichte für uns alle! Musste er einfach!
Die Fast-Katastrophe ist da
Am 26. Januar  1945 krachte es fürchterlich auf den Karton, in den 23 Memeler Hochflieger hineingepfercht worden waren. Von Richard Krosien senior, der seit der Evakuierung seiner Nachkommen im Juli 1944 alle Memeler Hochflieger seines seit 1941 an der Ostfront stationierten Sohnes Richard hütete und versorgte. Die Tiere waren der ganze Stolz einer langjährigen Zucht: hübsch, rassig, fit, einmalig!


Später fand unser Kinderwagen aber auch noch ganz andere Verwendung, als nur Kleinkinder zu transportieren. Auch war er längst nicht so komfortabel, wie es die Kinderwagen heutzutage sind. Oft sind das nämlich wahre Nobelkarossen! Richtige Statussymbole! Ob das kutschierte Baby etwas davon merkt? Oder befriedigt so was bloß den Dünkel bestimmter Eltern?
Dann kam „der Russe" näher und näher - und auch für die paar Tauben war der letzte Tag in der angestammten Heimat angebrochen. Mit fachkundigem Auge wurden die Besten unter den Guten ausgesucht und ohne viel Federlesen in den Pappkarton gesteckt. Für die vielen anderen Tauben öffnete sich für dauernd die Ausflugklappe des vertrauten Taubenschlages - und ab ging`s mit denen in den kalten Memeler Himmel! Wer weiß wohin? Ein Abschied für immer?


Unser Kinderwagen dagegen hatte nur ein aus Hartpappe gepresstes Oberteil in Grau, ein stabiles metallenes Gestell und vier mittelgroße Räder aus Speichenfelgen mit grauer Hartgummibereifung. Das Oberteil war mit  Lederriemen am Gestell aufgehängt, sodass es gut, aber sanft schaukelte. Eine Griffstange zum Schieben oder Ziehen gab dem „Transporteur“ guten Halt. Ein zusammenklappbares Verdeck war zum Schutz vor Sonne und Regen da. Schließlich sorgte eine primitive Bremse für sicheren Stand. Und das war's auch schon!
Das Schicksal ist gnädig
Und nun hatte es hier unheilvoll gekracht! Eine schwere Munitionskiste war auf einem der wohl letzten deutschen Munitionsdampfer mit Flüchtlingen aus Memel auf den Karton herniedergesaust. 14 Tiere waren sofort tot, andere starben an ihren Verletzungen oder an Entkräftung während der langen, beschwerlichen Fahrt. Ganze neun Tauben erreichten das rettende Ziel, Schleswig-Holstein. Deren Unglück hatte jedoch noch kein Ende. Ratten töteten weitere zwei Tiere, so dass schließlich nur sieben Tauben von ursprünglich 23 übrig blieben.  


Das Verdeck brauchten wir Bowkes nicht. Kurzerhand wurde es abmontiert und irgendwo hingeschmissen. Der Kinderwagen selbst war für uns aber ein tolles Spielzeug, nachdem auch das letzte der Kinder aus ihm herausgewachsen war, er also quasi seine „Pflicht“ getan hatte. Er musste dann beispielsweise als Rennwagen herhalten. Dabei wurde jedoch immer friedlich unter uns Bowkes ausgemacht, wer fahren durfte und wer schieben musste. Für den Fahrer jedes Mal ein Vergnügen, für den Schiebenden eine aussichtsreiche Anstrengung. Hat das Spaß gemacht!
Aber was für welche! Sozusagen die Stammeltern einer altehrwürdigen Tümmlerrasse im 1945 darniederliegenden, hungernden und frierenden westlichen Teil Deutschlands. Dies, nachdem der zu seiner Familie nach Bremervörde in Niedersachsen verschlagene Sohn des Richard Krosien senior nach langer Odyssee die Memeler Hochflieger in seine Obhut genommen hatte. Er holte nämlich seinen alten, kranken Vater und die Tauben kurzerhand aus deren Elendsquartier in Kollmar an der Elbe zu sich in die niedersächsische Kleinstadt. Der Junior machte sich  sogleich daran, seinen Lieblingen aus Abfallbrettern und Dachpappe eine einigermaßen passable Unterkunft zu zimmern. Immer nur in engen Kaninchenställen zu hausen - wie zuvor -, war für die Tauben nicht artgerecht und durfte doch kein Dauerzustand bleiben! Dann gingen er und seine Kinder bei den Bauern, die Getreide droschen, und bei den Mühlen der Umgebung Dreschabfälle betteln. Nach den voherigen Entbehrungen war dieses Futter - so karg es auch war - für die Tauben die notwendige Überlebenschance, ja geradezu eine Verwöhnung!  Das war eine Gnade bei dem damaligen schweren Los der Tiere.


Der beste Transporter für Sand, Steine und Grassoden zum Burgenbau war unser Kinderwagen, ebenso für Sträucher, die ja auch dafür herangekarrt werden mussten. Selbst flache Wasserlachen in unserer Kiesgrube überwand unser Gefährt zur Freude des jeweiligen Fahrers spielend, der dabei trocken blieb.
Der Beginn - ein Wunder
Aber mit der Zeit ging es im Lande mit Mensch und Tier wieder aufwärts. Für beide Spezies gab es wieder etwas Richtiges zu beißen. Um die Gesundheit der Tauben bemühte sich liebevoll ein befreundeter Tierarzt - ein wahrer Hüne von Gestalt, mit weichem Herz, mit großen, aber sanften Händen. Und die Tiere bedankten sich bei ihrem „Ziehvater" für all die Mühe mit zahlreichem, strammem Nachwuchs! Denn bald flatterte und gurrte ein buntes, quicklebendiges Völkchen Memeler Hochflieger in der weiträumig ausgelegten Bremervörder Voliere. Einige „Ausreißer" unter den Tieren - zumeist „Neue, Unerfahrene" - wurden von Familienangehörigen in näheren oder ferneren Dörfern wieder „aufgegriffen und eingesperrt", sofern sie nicht vorher von einem hungrigen „Hawke" ( Habicht ) weggeschnappt worden waren.


Bei solch rauer und häufiger Benutzung gingen mit der Zeit einige Teile des Kinderwagens kaputt. Zuerst brachen einige Stücke aus dem Oberteil heraus. Solcher Schaden wurde einfach mit grober „Flickschusterei“ durch uns selbst behoben, wenn das noch ging. Schlimmer war's schon, wenn etwas am Gestell brach. Dann waren sachkundige Arbeit und geeignetes Werkzeug vonnöten. Aber da fand sich immer jemand, der half.
Die Züchter sammeln sich
Richard Krosien junior wollte aber mehr. Er, der schon seit seinem 14. Lebensjahr den Memeler Hochflieger züchtete und in Memel einen guten Namen in Züchterkreisen hatte, „sammelte" in mühevoller Kleinarbeit ihm bekannte Memeler Züchter zusammen, die jetzt - soweit sie geflüchtet waren - verstreut über das ganze westliche Deutschland lebten. Nahezu alle, die er irgendwie erreichen konnte, folgten seinem Ruf nach Bremervörde, wo sie sich - nun in der Fremde - erneut Züchtertreue schworen und den Sitz des 1921 gegründeten „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" bestimmten, und zwar zu der Zeit den Wohnort Richard Krosiens, des ab dann langjährigen  Vereinsvorsitzenden, später - bis zu seinem Tode - Ehrenvorsitzenden.


Nur die Räder mussten ersetzt werden, wenn die mal demoliert waren. Reparatur? Unmöglich! Das kostete dann Geld! Und das hatten wir Bowkes natürlich nicht. Das kriegten wir auch nicht von irgendjemand! Dann war „London in Not“! Darum behandelten wir Bowkes die Räder auch stets besonders sorgsam!
Ein Leben für den Memeler Hochflieger
Dieser muss „seine Memeler" so geliebt haben, dass er sogar aussichtsreiche Berufsangebote in anderer Umgebung Deutschlands ausschlug. Er glaubte, dort weniger günstige Lebensbedingungen für seine „Schutzbefohlenen" zu sehen, und nahm so für sich und seine Familie lieber Nachteile in Kauf, als dem Ruf zu folgen. Ja, sogar in Bremervörde selbst „belegte" er Teile seiner Familienwohnung mit gerade geschlüpften Jungtieren. Die brauchten für gutes Gedeihen doch unbedingt ununterbrochen wohlige Wärme! Außerdem musste es mit der Aufzucht schon früh im Jahr losgehen, auch wenn es nachts im Taubenschlag noch ganz schön kalt war! Als er schon dem Tode geweiht war, ließ er sein Krankenbett sogar so aufstellen, dass er seine Lieblinge durch das Fenster hindurch in der Voliere beobachten konnte. Bis zuletzt gab er noch Ratschläge zur weiteren Zucht des Memeler Hochfliegers. Wirklich ein Leben für seine Tauben!  


Eines Tages aber ging es dann mit allem nicht mehr. So fand der Kinderwagen durch uns Bowkes immer weniger Beachtung. Schließlich geriet er in Vergessenheit. Sein „Wrack“ stand dann irgendwo in einer Ecke unseres Grundstücks herum und vergammelte mit der Zeit immer mehr.
Der Memeler Hochflieger in neuer Heimat
Der Memeler Hochflieger gefiel aber nicht nur vielen alten Memelländern! Nein, schon bald verliebten sich auch zahlreiche Menschen aus der „neuen Heimat" in diese Rasse. Sie holten sich geeignete Zuchtpaare von Richard Krosien junior, ließen sich von den „alten Memeler Hasen" in die typischen Merkmale des Memeler Hochfliegers einweisen und züchteten die für sie neue Rasse munter darauf los. Erfolgreich, wie heute guten Gewissens und stolz gesagt werden kann! Denn sowohl hier in Deutschland als auch in verschiedenen anderen europäischen Ländern (z. B. in den nordischen Staaten und in den Niederlanden), ja sogar in Südafrika!! gibt es inzwischen tausendfache Nachkommenschaft des Memeler Hochfliegers. Für den Luftfrachtversand der Tauben nach Südafrika zimmerte Richard Krosien junior eigenhändig!! eine Spezial-Versandkiste: leicht, stabil, genügend geräumig! Diese Versandkiste hätte er sich gut und gern patentieren lassen können! Den Tauben bekam übrigens überall die gegenüber Memel doch recht andersartige Luft gut!


Heutzutage gibt es so etwas nicht mehr! Viel zu pompös sind die Kinderwagen nämlich, als dass man sie irgendwo vergammeln ließe. Und teuer außerdem! Schon kurz nach ihrer „Besetzungszeit“ stehen sie, als besonders günstiges Schnäppchen gekennzeichnet, in einem „Secondhandladen“ zum Verkauf. Immerhin stellen sie immer noch einen erheblichen Wert dar! Und andere „Neubürger unserer Erde“ sollen doch auch in den Genuss ihrer geschätzten Qualitäten kommen! Zu einem Spielzeug, wie seinerzeit bei uns, darf der Kinderwagen heutzutage jedenfalls nicht mehr „degradiert“ werden! Dabei gab es zu unserer Zeit in jeder Familie viel mehr Kinder, für die er herhalten musste, als heute. Welch ein Jammer!
Memelländischer Geist im geteilten Deutschland
An dieser Stelle einige Randbemerkungen zur Nachkriegspolitik in Deutschland, einem unerfreulichen Kapitel der jüngsten deutschen Vergangenheit. Während hier in der Bundesrepublik Deutschland die memelländische Züchtervereinigung weiterhin ihren traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" fortführen durfte, mussten sich die Züchter des Memeler Hochfliegers in der ehemaligen Sowjetzone und späteren, heute nicht mehr existierenden Deutschen Demokratischen Republik unter der Bezeichnung „SZG Memeler Hochflieger" (SZG bedeutet Spezial-Zucht-Gemeinschaft) betätigen. Trotz dieses Unterschiedes muss heute klar und deutlich gesagt werden: Dort waren die Züchter genau so zielstrebig wie hier! Auch dort waren ehemalige Memelländer am Werk, die wussten, was sie wollten, und die viel von den Memeler Hochfliegern verstehen! Auch politische Knebelung konnte sie nicht daran hindern, diese Rasse wieder hochzupäppeln. Die Verbindungen hinüber und herüber rissen zu keiner Zeit ab.
 
Fazit: In ganz Restdeutschland ging`s mit dem Memeler Hochflieger beständig aufwärts. Wie sehr, konnte und kann jeder auf den alljährlichen Taubenausstellungen in Ost und West, in Nord und Süd sehen!
 
Das Gestern heute
Was aus den zurückgelassenen „Differts" ( Tauben ) geworden ist, weiß niemand so recht. Kodderig wird`s ihnen aber bestimmt ergangen sein! Wie den Menschen dort, deren Lebensstandard und Wohnverhältnisse jeder Memelländer heute als Besucher seiner früheren Heimat ja selbst sehen kann. Fest steht aber mit Sicherheit: Rasserein gibt es den Memeler Hochflieger dort wohl nicht mehr. Mit anderen Rassen und „Feldflüchtern" werden sich die „Memeler" vermischt haben - wie die Menschen das dort ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Herkunft auch oft getan haben. Das bedeutet ja nichts Schlechtes! Wo die Liebe gerade hinfällt! Jedoch reinrassige Memeler Hochflieger sind`s halt eben nicht mehr!
 
Aber es gibt im heutigen Litauen auch litauische Taubenzüchter, die von fern hinter die Merkmale der memelländischen Rasse zu kommen bemüht sind. Viele Fragen - viele Antworten! Viele Bitten - viele Hilfen zur Selbsthilfe! Nur - die Tradition ist schwer an fremde, anders denkende Menschen zu vermitteln. So etwas muss eigentlich wachsen, so wie das bei den Memeler Züchtern seit langem der Fall ist. Dennoch herrscht Freude darüber, dass Menschen anderer Zunge und Herkunft im Memelland Interesse an dem Memeler Hochflieger zeigen.
 
Der traditionelle Zuchtverein lebt weiter
Nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland haben sich die beiden - aus rein politischen Gründen - getrennten Taubenvereine des Memeler Hochfliegers ab 1991 wieder unter ihrem traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" zusammengeschlossen. Eine der ersten Aufgaben des neuen/alten Klubs war die Erstellung eines zeitgemäßen, einheitlichen Standards für diese Rasse. Im Laufe der unnatürlichen, politischen Teilung Deutschlands hatte sich doch so einiges auseinanderentwickelt. Jetzt liegt eine moderne Musterbeschreibung für den Memeler Hochflieger vor. Der Verein hat praktikable Bestimmungen für seinen Vorstand, für die Finanzen und für die Ehrungen verdienter Mitglieder erarbeitet. Und die Tauben - die eigentliche Seele im Leben der Züchter dieser Rasse - können wieder „hoch fliegen", denn auch der Hochflugsport wurde in einer zeitgemäßen Hochflugordnung geregelt. Schon heute - und bald hoffentlich viel öfter - werden Menschen in vielen Gegenden Deutschlands und der Welt ihren Blick himmelwärts richten, um die hoch oben ihre Kreise ziehenden Memeler Hochflieger zu beobachten. Das war im Memelland an vielen Tagen - vor allem an den Wochenenden - so. Und so wird es wieder sein!
 
Summasummarum: Alles beste Voraussetzungen für eine gedeihliche Zukunft des Memeler Hochfliegers - in der neuen Heimat!
 
Die Zukunft hat schon begonnen
1996 hatte der „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" seinen 75. Geburtstag.
Ja, so lange ist diese Taubenrasse schon organisiert! Das ist doch was!
Beim 100. Geburtstag gibt`s auf jeden Fall den vorerst absoluten Höhepunkt in dessen Vereinsgeschichte! Das wird ein Fest werden! Dann sollen weitere - hoffentlich friedlichere - 100 Jahre für den Memeler Hochflieger anbrechen. Auf jeden Fall: Der Name „Memeler Hochflieger" wird zu jeder Zeit und überall, wo diese Rasse gezüchtet oder gezeigt wird, Zeugnis davon ablegen, wo die Stammheimat dieser Tauben gewesen ist. Mancher wird möglicherweise so veranlasst, in einen Atlas oder in ein Lexikon zu schauen, weil er nichts mehr von einem Memel gehört hat, das ja ab 1945 Klaipeda heißt.

Version vom 14. August 2009, 16:48 Uhr

Jedes Ende hat einen neuen Anfang von Gerhard Krosien

Der Memeler Hochflieger schien mit der Flucht aus Memel im Jahre 1945 vor seinem Aus zu stehen. Doch es ist anders gekommen. Gott sei Dank! In unerwarteter Weise haben er und sein Traditionsverein sich als erstaunlich lebenstüchtig erwiesen. Ein Stück Heimat konnte so in eine neue Umgebung hinübergerettet werden.

Die Fast-Katastrophe ist da Am 26. Januar 1945 krachte es fürchterlich auf den Karton, in den 23 Memeler Hochflieger hineingepfercht worden waren. Von Richard Krosien senior, der seit der Evakuierung seiner Nachkommen im Juli 1944 alle Memeler Hochflieger seines seit 1941 an der Ostfront stationierten Sohnes Richard hütete und versorgte. Die Tiere waren der ganze Stolz einer langjährigen Zucht: hübsch, rassig, fit, einmalig!

Dann kam „der Russe" näher und näher - und auch für die paar Tauben war der letzte Tag in der angestammten Heimat angebrochen. Mit fachkundigem Auge wurden die Besten unter den Guten ausgesucht und ohne viel Federlesen in den Pappkarton gesteckt. Für die vielen anderen Tauben öffnete sich für dauernd die Ausflugklappe des vertrauten Taubenschlages - und ab ging`s mit denen in den kalten Memeler Himmel! Wer weiß wohin? Ein Abschied für immer?

Das Schicksal ist gnädig Und nun hatte es hier unheilvoll gekracht! Eine schwere Munitionskiste war auf einem der wohl letzten deutschen Munitionsdampfer mit Flüchtlingen aus Memel auf den Karton herniedergesaust. 14 Tiere waren sofort tot, andere starben an ihren Verletzungen oder an Entkräftung während der langen, beschwerlichen Fahrt. Ganze neun Tauben erreichten das rettende Ziel, Schleswig-Holstein. Deren Unglück hatte jedoch noch kein Ende. Ratten töteten weitere zwei Tiere, so dass schließlich nur sieben Tauben von ursprünglich 23 übrig blieben.

Aber was für welche! Sozusagen die Stammeltern einer altehrwürdigen Tümmlerrasse im 1945 darniederliegenden, hungernden und frierenden westlichen Teil Deutschlands. Dies, nachdem der zu seiner Familie nach Bremervörde in Niedersachsen verschlagene Sohn des Richard Krosien senior nach langer Odyssee die Memeler Hochflieger in seine Obhut genommen hatte. Er holte nämlich seinen alten, kranken Vater und die Tauben kurzerhand aus deren Elendsquartier in Kollmar an der Elbe zu sich in die niedersächsische Kleinstadt. Der Junior machte sich sogleich daran, seinen Lieblingen aus Abfallbrettern und Dachpappe eine einigermaßen passable Unterkunft zu zimmern. Immer nur in engen Kaninchenställen zu hausen - wie zuvor -, war für die Tauben nicht artgerecht und durfte doch kein Dauerzustand bleiben! Dann gingen er und seine Kinder bei den Bauern, die Getreide droschen, und bei den Mühlen der Umgebung Dreschabfälle betteln. Nach den voherigen Entbehrungen war dieses Futter - so karg es auch war - für die Tauben die notwendige Überlebenschance, ja geradezu eine Verwöhnung! Das war eine Gnade bei dem damaligen schweren Los der Tiere.

Der Beginn - ein Wunder Aber mit der Zeit ging es im Lande mit Mensch und Tier wieder aufwärts. Für beide Spezies gab es wieder etwas Richtiges zu beißen. Um die Gesundheit der Tauben bemühte sich liebevoll ein befreundeter Tierarzt - ein wahrer Hüne von Gestalt, mit weichem Herz, mit großen, aber sanften Händen. Und die Tiere bedankten sich bei ihrem „Ziehvater" für all die Mühe mit zahlreichem, strammem Nachwuchs! Denn bald flatterte und gurrte ein buntes, quicklebendiges Völkchen Memeler Hochflieger in der weiträumig ausgelegten Bremervörder Voliere. Einige „Ausreißer" unter den Tieren - zumeist „Neue, Unerfahrene" - wurden von Familienangehörigen in näheren oder ferneren Dörfern wieder „aufgegriffen und eingesperrt", sofern sie nicht vorher von einem hungrigen „Hawke" ( Habicht ) weggeschnappt worden waren.

Die Züchter sammeln sich Richard Krosien junior wollte aber mehr. Er, der schon seit seinem 14. Lebensjahr den Memeler Hochflieger züchtete und in Memel einen guten Namen in Züchterkreisen hatte, „sammelte" in mühevoller Kleinarbeit ihm bekannte Memeler Züchter zusammen, die jetzt - soweit sie geflüchtet waren - verstreut über das ganze westliche Deutschland lebten. Nahezu alle, die er irgendwie erreichen konnte, folgten seinem Ruf nach Bremervörde, wo sie sich - nun in der Fremde - erneut Züchtertreue schworen und den Sitz des 1921 gegründeten „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" bestimmten, und zwar zu der Zeit den Wohnort Richard Krosiens, des ab dann langjährigen Vereinsvorsitzenden, später - bis zu seinem Tode - Ehrenvorsitzenden.

Ein Leben für den Memeler Hochflieger Dieser muss „seine Memeler" so geliebt haben, dass er sogar aussichtsreiche Berufsangebote in anderer Umgebung Deutschlands ausschlug. Er glaubte, dort weniger günstige Lebensbedingungen für seine „Schutzbefohlenen" zu sehen, und nahm so für sich und seine Familie lieber Nachteile in Kauf, als dem Ruf zu folgen. Ja, sogar in Bremervörde selbst „belegte" er Teile seiner Familienwohnung mit gerade geschlüpften Jungtieren. Die brauchten für gutes Gedeihen doch unbedingt ununterbrochen wohlige Wärme! Außerdem musste es mit der Aufzucht schon früh im Jahr losgehen, auch wenn es nachts im Taubenschlag noch ganz schön kalt war! Als er schon dem Tode geweiht war, ließ er sein Krankenbett sogar so aufstellen, dass er seine Lieblinge durch das Fenster hindurch in der Voliere beobachten konnte. Bis zuletzt gab er noch Ratschläge zur weiteren Zucht des Memeler Hochfliegers. Wirklich ein Leben für seine Tauben!

Der Memeler Hochflieger in neuer Heimat Der Memeler Hochflieger gefiel aber nicht nur vielen alten Memelländern! Nein, schon bald verliebten sich auch zahlreiche Menschen aus der „neuen Heimat" in diese Rasse. Sie holten sich geeignete Zuchtpaare von Richard Krosien junior, ließen sich von den „alten Memeler Hasen" in die typischen Merkmale des Memeler Hochfliegers einweisen und züchteten die für sie neue Rasse munter darauf los. Erfolgreich, wie heute guten Gewissens und stolz gesagt werden kann! Denn sowohl hier in Deutschland als auch in verschiedenen anderen europäischen Ländern (z. B. in den nordischen Staaten und in den Niederlanden), ja sogar in Südafrika!! gibt es inzwischen tausendfache Nachkommenschaft des Memeler Hochfliegers. Für den Luftfrachtversand der Tauben nach Südafrika zimmerte Richard Krosien junior eigenhändig!! eine Spezial-Versandkiste: leicht, stabil, genügend geräumig! Diese Versandkiste hätte er sich gut und gern patentieren lassen können! Den Tauben bekam übrigens überall die gegenüber Memel doch recht andersartige Luft gut!

Memelländischer Geist im geteilten Deutschland An dieser Stelle einige Randbemerkungen zur Nachkriegspolitik in Deutschland, einem unerfreulichen Kapitel der jüngsten deutschen Vergangenheit. Während hier in der Bundesrepublik Deutschland die memelländische Züchtervereinigung weiterhin ihren traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" fortführen durfte, mussten sich die Züchter des Memeler Hochfliegers in der ehemaligen Sowjetzone und späteren, heute nicht mehr existierenden Deutschen Demokratischen Republik unter der Bezeichnung „SZG Memeler Hochflieger" (SZG bedeutet Spezial-Zucht-Gemeinschaft) betätigen. Trotz dieses Unterschiedes muss heute klar und deutlich gesagt werden: Dort waren die Züchter genau so zielstrebig wie hier! Auch dort waren ehemalige Memelländer am Werk, die wussten, was sie wollten, und die viel von den Memeler Hochfliegern verstehen! Auch politische Knebelung konnte sie nicht daran hindern, diese Rasse wieder hochzupäppeln. Die Verbindungen hinüber und herüber rissen zu keiner Zeit ab.

Fazit: In ganz Restdeutschland ging`s mit dem Memeler Hochflieger beständig aufwärts. Wie sehr, konnte und kann jeder auf den alljährlichen Taubenausstellungen in Ost und West, in Nord und Süd sehen!

Das Gestern heute Was aus den zurückgelassenen „Differts" ( Tauben ) geworden ist, weiß niemand so recht. Kodderig wird`s ihnen aber bestimmt ergangen sein! Wie den Menschen dort, deren Lebensstandard und Wohnverhältnisse jeder Memelländer heute als Besucher seiner früheren Heimat ja selbst sehen kann. Fest steht aber mit Sicherheit: Rasserein gibt es den Memeler Hochflieger dort wohl nicht mehr. Mit anderen Rassen und „Feldflüchtern" werden sich die „Memeler" vermischt haben - wie die Menschen das dort ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Herkunft auch oft getan haben. Das bedeutet ja nichts Schlechtes! Wo die Liebe gerade hinfällt! Jedoch reinrassige Memeler Hochflieger sind`s halt eben nicht mehr!

Aber es gibt im heutigen Litauen auch litauische Taubenzüchter, die von fern hinter die Merkmale der memelländischen Rasse zu kommen bemüht sind. Viele Fragen - viele Antworten! Viele Bitten - viele Hilfen zur Selbsthilfe! Nur - die Tradition ist schwer an fremde, anders denkende Menschen zu vermitteln. So etwas muss eigentlich wachsen, so wie das bei den Memeler Züchtern seit langem der Fall ist. Dennoch herrscht Freude darüber, dass Menschen anderer Zunge und Herkunft im Memelland Interesse an dem Memeler Hochflieger zeigen.

Der traditionelle Zuchtverein lebt weiter Nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland haben sich die beiden - aus rein politischen Gründen - getrennten Taubenvereine des Memeler Hochfliegers ab 1991 wieder unter ihrem traditionellen Namen „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" zusammengeschlossen. Eine der ersten Aufgaben des neuen/alten Klubs war die Erstellung eines zeitgemäßen, einheitlichen Standards für diese Rasse. Im Laufe der unnatürlichen, politischen Teilung Deutschlands hatte sich doch so einiges auseinanderentwickelt. Jetzt liegt eine moderne Musterbeschreibung für den Memeler Hochflieger vor. Der Verein hat praktikable Bestimmungen für seinen Vorstand, für die Finanzen und für die Ehrungen verdienter Mitglieder erarbeitet. Und die Tauben - die eigentliche Seele im Leben der Züchter dieser Rasse - können wieder „hoch fliegen", denn auch der Hochflugsport wurde in einer zeitgemäßen Hochflugordnung geregelt. Schon heute - und bald hoffentlich viel öfter - werden Menschen in vielen Gegenden Deutschlands und der Welt ihren Blick himmelwärts richten, um die hoch oben ihre Kreise ziehenden Memeler Hochflieger zu beobachten. Das war im Memelland an vielen Tagen - vor allem an den Wochenenden - so. Und so wird es wieder sein!

Summasummarum: Alles beste Voraussetzungen für eine gedeihliche Zukunft des Memeler Hochfliegers - in der neuen Heimat!

Die Zukunft hat schon begonnen 1996 hatte der „Klub der Züchter des Memeler Hochfliegers" seinen 75. Geburtstag. Ja, so lange ist diese Taubenrasse schon organisiert! Das ist doch was! Beim 100. Geburtstag gibt`s auf jeden Fall den vorerst absoluten Höhepunkt in dessen Vereinsgeschichte! Das wird ein Fest werden! Dann sollen weitere - hoffentlich friedlichere - 100 Jahre für den Memeler Hochflieger anbrechen. Auf jeden Fall: Der Name „Memeler Hochflieger" wird zu jeder Zeit und überall, wo diese Rasse gezüchtet oder gezeigt wird, Zeugnis davon ablegen, wo die Stammheimat dieser Tauben gewesen ist. Mancher wird möglicherweise so veranlasst, in einen Atlas oder in ein Lexikon zu schauen, weil er nichts mehr von einem Memel gehört hat, das ja ab 1945 Klaipeda heißt.